Meine Lebensgeschichte beginnt eigentlich im Kriegsjahr 1941
in der französischen Kleinstadt Pithiviers (Departement Loiret).
Ich kam am 28. Jan. 1943 zur Welt, und zwar in Paris, rue du Faubourg Saint Antoine Nr. 194, unter dem Namen Viviane Brunet. Ich wurde in Pithiviers gezeugt. Vater unbekannt. Die Mutter hat mich nie anerkannt. Sie war damals 30. Man nannte sie "die hochmütige Marcelline".
Standesamtlich bin ich ein elternloses, uneheliches Kind. Mich gibt es einfach nicht. Sogar als Erbin meiner verstorbenen Mutter wurde ich ausgestoßen.
Die Eltern meiner Mutter waren geschieden. Meine Mutter und 2 Geschwister wurden vom Großvater erzogen, das jüngste Kind (ein kleiner Junge) blieb bei der Großmutter, die ihn gleich aussetzte: der kleine Junge wurde der staatlichen Sozialfürsorge übergeben. Erst 20 Jahre später trafen sich meine Mutter und ihr jüngster Bruder rein zufällig auf einem Bauernhof im Ort Sully-sur-Loire.
Dann fand mein Großvater Arbeit in Algerien und ließ sich dort mit seinen Kindern nieder. Meine Mutter hat vor dem Krieg in Algerien geheiratet. Sie war noch sehr jung. Ihre Ehe wurde leider kein Erfolg. In den Jahren 1937/38 kam sie nach Pithiviers zu ihrer Tante Lucie, einer Schwester meiner Großmutter.
Meine Mutter hat mich lieblos großgezogen, obwohl ich doch ein Kind der Liebe war,und als solches kein unerwünschtes Kind. Sie gab aber dem Druck meiner Großmutter nicht nach, die mich aussetzen wollte. Ich durfte bei meiner Mutter bleiben und kam doch nicht in ein Kinderheim der staatlichen Sozialfürsorge.
Meine Mutter war in ihrem katholischen Glauben sehr überzeugt und ließ mich daher in der Kirche St Eloi in Paris taufen. Pate und Patin waren Unbekannte, bloß vom Pfarrer zur Taufe bestellt.
Auch mein deutscher Vater war katholisch, wie ich viel später in Düsseldorf aus seinen Geburts- und Todesurkunden erfuhr.
Ich fühlte mich anders als gleichaltrige Kinder, wußte aber nicht recht, warum… In meinem 6. Lebensjahr war ich Schülerin der Grundschule in der rue de l'Arbre Sec im 1. Bezirk von Paris, und bekam einen Schock, als die Lehrerin auf mich zeigte und sagte : "Du Deutschenkind !" Ich spürte ganz deutlich ihren Hass und blieb wie gelähmt. Kinder spüren nämlich so etwas.
Die Lehrerin wußte wohl von meiner deutschen Abstammung Bescheid, und auch ihre Schulassistentin, die mich immer wieder demütigen mußte. Sie guckte mich an, als käme ich vom Mond her, meinte, ich wäre häßlich, faul und zu dick in meinem Alter. Auch der Schularzt verhielt sich nicht besser. Ich schämte mich und war traurig.
Ich hatte tatsächlich Gesundheitsprobleme, wie manche Kriegskinder. Diese Schulassistentin hatte wirklich keine Humanität. Ich fühlte mich von Scham und Traurigkeit überwältigt, denn ich hatte eine große Demütigung vor allen Mitschülern hinnehmen müssen. Alle wußten, daß mein Vater ein "Boche", ein Deutscher war. Nur ich nicht. Auch meine beste Freundin Jacqueline hat gewußt.
Von diesem Tag an wollte keiner mit mir spielen. In den Pausen auf dem Schulhof wurde ich ausgegrenzt, sogar bespuckt, die anderen Schüler flüsterten unter sich, daß ich ein Deutschenkind sei, es war, als hätte ich eine ansteckende Krankheit… Man muß wissen, daß den Kindern von damals Ressentiments gegen die häßlichen Deutschen vermittelt wurden. Die einzige, die noch mit mir sprach und spielte, das war eben Jacqueline, meine beste Freundin, sie war für mich wie eine etwa jüngere Schwester. Wir waren ja Mitschülerinnnen, ihre Eltern waren mit meiner Mutter befreundet, ihr Vetter wurde später mein Ehemann.
Zu Hause verschwieg ich all meine Gefühle und Schmerzen, ich kapselte mich einfach ab und hatte den Kopf voller Fragen… Wer war denn wohl mein Vater ? Ich schämte mich und weinte still vor mich hin, als ich nachts im Bettt lag. Ich bekam Zweifel, mein Vater war wohl ein böser Deutscher gewesen, vielleicht einer von diesen schrecklichen Nazis. Von ihm wußte ich ja gar nichts. Doch hatte ich das innige Gefühl, daß er gar nicht so schlecht sein konnte - was sich auch später herausstellte.
Meine jüngere Schwester und ich lebten bei der Mutter zusammen und hatten beide keinen Papa zu Hause. Meine Schwester war 26 Monate jünger als ich und das Lieblingskind meiner Mutter. Ihretwegen bekam ich des öfteren Ohrfeigen, wußte aber nicht warum.
Dann kam ein Mann ins Haus, unser künftiger Stiefvater Georges. Er kam aus dem ländlichen Departement Creuse, war aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassen worden, hatte einen mittleren Posten bei der franz. Bahnverwaltung im 12. Bezirk von Paris, und war ein überzeugter Kommunist. Ein intelligenter, gebildeter Mensch. Aber leider alkoholsüchtig. Uns allen machte er das Leben zur Hölle, wenn er getrunken hatte.
Im Jahre 1949 hatte sich meine Mutter endlich von ihrem Mann scheiden lassen. Ich war damals 6 Jahre alt. Im Oktober 1951 heiratete meine Mutter Marcelline ihren Freund Georges im Rathaus des 1. Bezirks von Paris. Meine Schwester war 6, ich stand im 8. Lebensjahr. Meine Mutter hoffte wahrscheinlich auf ein besseres Leben und sozialen Aufstieg. Wir Kinder durften nicht bei der standesamtlichen Zeremonie erscheinen und mußten bei einer Nachbarin abwarten…Mag sein, daß meine Mutter sich als Braut ihrer beiden Kinder schämte..
bei der Konfirmation - 1955. |
Viel später erfuhr ich, daß uns Georges legitimieren wollte, daß aber meine Mutter sich geweigert habe. Ich habe es ihr übel genommen, daß ich ein ganzes Leben als uneheliches Kind da stehen mußte, ein Kind der linken Hand.
Nach der Hochzeit mußte ich Papa zum Ehemann meiner Mutter sagen, aber ich wurde stutzig und weigerte mich: nein, nie und nimmer, er war doch nicht mein Papa ! Dann habe ich angefangen, meine Mutter zu fragen. Leider blieben meine Fragen ohne Antwort. Sie meinte, es wäre doch ihr Privatleben und ginge mich überhaupt nichts an.
Von nun an begann der tägliche Terror zu Hause. Georges ging seiner Alkoholsucht nach. Meine Mutter war als Raumpflegerin in einer Schule tätig. Wenn sie Feierabend hatte und nach Hause kam, war er schon betrunken und machte ein Theater, wurde eifersüchtig und schlug sie. Er war auch peinlich pünktlich, Mittagessen um genau viertel vor zwölf, Abendbrot um 19 Uhr 45. Zu Tisch mußten wir Kinder schweigen. Fürs Geringste mußten wir ihn um Erlaubnis bitten. An einem Abend, als er wieder über den Durst getrunken hatte, stich er meiner Mutter mit einer Gabel in die Hand ! Delerium-Anfälle hatte er auch...
Damals wohnten wir im Pariser Viertel les Halles. Jeden Abend ging es los, er schmiß uns aus der Wohnung hinaus, wir mußten zum Teil im Treppenhaus übernachten, mit Prostuierten, die dort gelegentlich Zuflucht vor der Polizei fanden... Erst nachdem sich Georges wieder beruhigt hatte, machte uns Mutter die Wohnungstür wieder auf, und wir Kinder durften endlich in unsere Betten kommen !
Trotz allem konnte ich mich noch in der Schule durchsetzen und wurde sogar eine der besten Schülerinnen in meiner Klasse. Ich wollte mich durch gute Leistungen profilieren und dachte, wenn mein Vater ein netter Deutscher ist und sich wieder meldet, dann wird er stolz auf mich sein und mich mitnehmen. Stets hegte ich die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm, und das hat mir in meiner ziemlich verstörten Kindheit und Jugendzeit immer geholfen, trotz Alkoholsucht des Stiefvaters.
Ich war die einzige Blondine in der Familie, und das machte mich neugierig. Eines Tages mußte ich doch meine Mutter darum fragen. Ihre Antwort war aber gelogen. Sie sagte, sie hätte in Algerien mal Fieber wegen Typhus gehabt und dadurch ihr ursprünglich blondes Haar verloren. Später hätte sie wieder Haare bekommen, allerdings dunkle. Es stimmt aber nicht: ich habe schon Bilder meiner Mutter als Kind gesehen, sie war nie blond.
Und was war mit der Geige, oben auf dem Kleiderschrank ? Wem gehörte die Geige ? Eines Tages war sie weg, meine Mutter hatte sie verkauft. Ich mußte weinen, wußte aber nicht warum. Jetzt weiß ich : die Geige gehörte meinem Vater.
Mit weiteren Lügen hat meine Mutter versucht, sich selber und auch meine jüngste Schwester zu schonen. Tatsache ist, daß wir beide Kinder Halbgeschwister waren. Jede von uns hatte einen anderen Vater.
Mit 10 Jahren bin ich im Treppenhaus heruntergestürzt, als ich von der Schule zurückkam. Ich mußte mich aufraffen und die Treppe zu unserer Wohnung aus eigener Kraft hochgehen. Drei Tage und drei Nächte habe ich gelitten und geschwiegen. Es hieß ja, ich wäre ein so empfindliches kleines Mädchen… An einem Bein und auch am ganzen Körper hatte ich überall bedenkliche blaue Flecken. Erst dann entschloss sich mein Stiefvater, mich ins Krankenhaus zu bringen. Meine Mutter kam mit. Wir fuhren nicht mit einem Taxi ins Krankenhaus, das war ihm zu teuer, sondern mit der U-Bahn. Er trug mich mit meinem wunden, hängenden Bein auf seinen Schultern hin.
Im Krankenhaus bekamen die beiden Erwachsenen vom Arzt die Leviten gelesen ! Er brüllte sie an und meinte, es wäre höchste Zeit, daß ich zur Behandlung käme, ich hätte einen schlimmen, multiplen Beinbruch erlitten. Ich bekam einen Gipsverband und mußte anschließend 3 Monate im Krankenbett liegen. Freundin Jacqueline brachte mir Schreib- und Lesestoff aus der Schule und dazu Hausaufgaben, denn ich wollte ja weiter lernen.
Im Jahre 1957 bestand ich die Abschlußprüfung der Grundschule und ging in die Lehre. Meine Mutter hatte beschlossen, daß ich Näherin in einer Pariser Berufsschule lernen sollte. Es war wieder ihre Entscheidung, nicht meine. Drei Jahre habe ich in dieser Schule im 17. Bezirk von Paris gelernt. Im Lehrplan hatten wir auch das Fach Säuglingspflege und eine Fremdsprache, nämlich Englisch, aber kein Deutsch. Schade, ich hätte mit Vorliebe die Sprache Goethes gelernt...
Als ich 1960 heiratete, versprach meine Mutter meinem Ehemann, mich zu legitimieren, was sie aber nie tat, obwohl sie noch reichlich Zeit dazu gehabt hätte. Sie verstarb nämlich 34 Jahre später.
Ich bekam drei Kinder. Mit 29 Jahren nahm ich das Lernen wieder auf, obwohl ich Nachtschicht am Arbeitsplatz im Krankenhaus hatte. 1974 verstarb mein Stiefvater an den Folgen von Alkohol- und Tabaksucht. Kurz vor seinem Tod hat er mich noch zu sich bestellen wollen. Wozu habe ich nie gewußt, denn ich kam zu spät. Einige Monate nach dem Tod von Georges zeigte mir meine Mutter ein herzförmiges Medaillon, mit den beiden Fotos meiner Mutter und meines Vaters. Dann erklärte sie mir, mein Vater hieße Willi (eigentlich Wilhelm), er sei sehr nett und auch älter als sie, allerdings schon verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, daß er sich mit seiner Frau in Düsseldorf nicht so gut verstehe. Aber sie erwähnte weder seinen Familiennamen noch sein Geburtsdatum, sagte jedoch, daß sie ihn immer geliebt habe.
Sie gab mir den Fotoapparat meines Vaters, samt Lederetui und Zubehör, ein Theaterfernglas und zwei kleine Sprachlexika für Englisch und Französisch. Und dabei blieb es ! Mehr konnte ich nicht erfahren. Aber die Gegenstände, die meinem Vater einmal gehört hatten, waren für mich ein echter Schatz.
Noch in diesem Jahr wurde ich schwer depressiv, und wußte nicht warum. Ich mußte grundlos weinen, konnte überhaupt nicht mehr schlafen. Der Psychiater zeigte kein großes Interesse für meinen Zustand. Das alles war eigentlich die Quittung für die Strapazen der Nachtschichtarbeit, für die familiären Sorgen - vor 5 Jahren hatte mein Mann einen Verkehrsunfall gehabt, meine jüngere Tochter, ein 9monatiges Baby, war schwerkrank geworden. Aber wenn ich daran zurückdenke, so glaube ich, daß dieser depressive Zustand auch mit meinem Schicksal und den Erlebnissen als Kriegskind zu tun hatte.
Meine Mutter verstarb 1994 und nahm ihre Geheimnisse ins Grab mit. Meine Schwester und ihr Mann nahmen die Erbschaft unserer verstorbenen Mutter ausschließlich für sich und ihre Kinder in Anspruch. Mein Schwager meinte, weder ich noch meine Kinder hätten Erbansprüche, denn ich war ja ein uneheliches Kind. Meine Mutter hat meine Kinder nie gemocht, und noch auf ihrem Sterbebett hat sie sich von mir losgesagt. Aus welchem Grund auch immer.. Ich habe meine Mutter doch sehr geliebt, und werde jetzt nichts mehr erfahren.
Das Medaillon mit dem Foto meines Vaters verschwand. Aber ich habe noch Briefe
von ihm gefunden, darunter eine Ansichtskarte des Gasthauses, wo er nach
Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft als Kellner Arbeit fand.
Nachdem ich die Briefe gelesen hatte, mußte ich nochmal weinen. Warum hatte mir die Mutter die Wahrheit verschwiegen ? Es war einfach zum Heulen...
Ja, mein Vater hatte mich lieb, er fragte nach mir, er machte sich Sorgen um mich, als ich krank wurde. Er schrieb, es täte ihm leid, daß er mir keine Spielsachen schicken konnte, weil er momentan arm geworden war wie nie zuvor. Er wünschte mir viel Glück zum Geburtstag, die Bilder von mir habe er bekommen und habe sich darauf sehr gefreut.
Weiter schrieb er : "die 3 Jahre hinterm Stacheldraht habe ich immer wieder an Euch gedacht, als Kriegsgefangener in England, Belgien, Afrika, Amerika, aber leider nicht in Frankreich, denn sonst hätte ich irgendeine Möglichkeit gefunden, um Euch zu besuchen. Und jetzt bin ich in Deutschland, es ist nicht mehr schön, und dort, wo ich bin, kenne ich weder Land noch Leute, und mag auch nicht länger bleiben".
Er fragte auch nach Menschen, die er damals in Pithiviers kennen gelernt hatte, darunter Familie Mirloup, Madame Cramer, Chefin der Metzgerei, wo meine Mutter als Hausmädchen gearbeitet hatte, nach Monsieur Dresch und nach ehemaligen französischen Kriegsgefangenen, die sich wohl noch an ihn erinnern würden, und er nannte sie alle bei Namen und bat meine Mutter um ihre Adressen. Denn er hatte sein Notizbüchlein vernichtet, bevor er in Kriegsgefangenschaft geraten war. Meine Mutter sollte ihnen allen einen schönen Gruß von ihm ausrichten. Er wollte auch wissen, ob sie immer noch ihr graues Kleid hätte. Nein, das hatte sie nicht mehr, nur das blaue Kleid aus Pithiviers.
Am Ende des Krieges wurden mein Vater und seine Familie ausgebombt, er hatte alles verloren, das einzige, was er noch besaß, das waren die Kleider, die er aus der Kriegsgefangenschaft noch dabei hatte...
Weiter schrieb er, daß meine Mutter sich über den Tag meiner Geburt verschrieben habe, ich sei am 2. November und nicht am 2. Dezember geboren.
1948 schrieb er noch: "Ich möchte wissen, ob es für mich Möglichkeiten gibt, nach Frankreich zu kommen, und habe mich darüber beim franz. Generalkonsulat erkundigt. Ich hätte Dir gern einen Erfolg gemeldet, aber leider ist mein Vorhaben vorerst nicht realisierbar, ich darf noch nicht nach Frankreich, nicht einmal als freier Arbeiter. Aber wir werden noch schöne Tage erleben. So heißt es doch im französischen Volkslied "quand tout renaît à l'espérance". Im Rundfunk haben sie noch heute nachmittag "j'attendrai toujours." vorgespielt. Ob Du noch auf mich wartest?"
In einem Brief standen unten Name und Adresse meines Vaters in Düsseldorf. Endlich war ich auf eine Spur gekommen !
Am 19. Dez. 1994 schreibe ich an die Redaktion der französischen TV-Sendung Perdu de vue und bekomme am 23. Jan 1995 eine Antwort vom Sender TF1 : es heißt, ich hätte leider zu wenig Informationen vorgelegt, daß die Redaktion eine Nachforschung starten könne. Aber ich werde auf die Adresse vom WDR in Düsseldorf hingewiesen, bei dem eine ähnliche Sendung (Vermißt) gezeigt wird. Es fehlt leider ein Bild vom Vater.
Dann habe ich sofort Familie Mirloup in Pithiviers angerufen, in der Hoffnung, etwas mehr über meinen Vater zu erfahren, den sie wohl gekannt hatte. Micheline antwortete, es wäre Aufgabe meiner Mutter gewesen, mich zu informieren. Aber leider ist Mutter jetzt tot. Da hilft nichts, Micheline bleibt dabei und schweigt. Ich bin ganz verzweifelt.
Meine Tochter Laurence schaltet sich ein und schreibt einen langen Brief an Micheline Mirloup. Sie bekommt eine Antwort. Micheline schreibt, daß mein Vater in jeder Hinsicht ein hochanständiger Mensch gewesen ist, daß er vielen Leuten in Pithiviers das Leben gerettet habe, daß er sogar gegen die Nazis war.
Zu der Zeit kam ich auch auf ein Foto des Vaters in dem Gasthaus, wo er arbeitete. Mit 52 erfahre ich endlich Näheres über meine Abstammung und meinen Vater.
Er war 1941 nach Pithiviers gekommen, konnte fließend Französisch, schriftlich und mündlich. Er war Sachbearbeiter bei der dortigen deutschen Kommandantur für den Briefwechsel in franz. Sprache gewesen, und hatte auch darunter Briefe von französischen Denunzianten zu lesen bekommen. Er gab sie aber nicht weiter, sondern vernichtete sie mit Michelines Hilfe. Familie Mirloup betrieb eine Gemüsegärtnerei und konnte noch mit Hilfe gleichgesinnter Familien verfolgte jüdische Flüchtlinge verstecken. Codewort zwischen Familie Mirloup, Micheline und meinem Vater war : est-ce que vos fleurs sont arrivées ? (Sind Eure Blumen angekommen ?) Eines Tages wurden sie aber verraten und denunziert.
Am 18. Feb. 1995 schrieb ich an die Redaktion der Sendung "Vermißt" und bekam am 19. Mai die Antwort, daß meine deutschen Halbgeschwister noch am Leben seien. Die Redaktion habe eine TV-Sendung für den 25. Mai programmiert, und wollte wissen, ob ich an dem Tag dabei sein könne, ob ich sie anrufen könne. Ich habe sofort angerufen, ich konnte einfach nicht länger warten.
In Düsseldorf ist der Familienname Schmitz sehr geläufig. Dank dem Bild, das mir Micheline geschickt hatte, und der Ansichtskarte des Gasthauses, wo mein Vater berufstätig war, konnte meine Verwandschaft in Deutschland erreicht werden. Auch sie hatten die Bilder.
Als ich deutschen Boden betrat, bekam ich das Gefühl, daß ich hier seit eh und je zu Hause war.
Wir trafen uns vor der Sendung im den Räumen vom WDR. Mein Bruder war da, nicht aber meine Schwester, denn für sie war die Situation ganz unmöglich. Sie meinte, so etwas hätte der Vater doch nicht machen können. Das machte mich traurig. Nach der Sendung war ich 2 Tage Gast beim deutschen Bruder und seiner Gattin.
Mein Vater und seine Kinder in Deutschland hatten ein sehr inniges Verhältnis. Mein Bruder gab sich zuversichtlich, beruhigte mich und sagte: "Mach dir bloß keine Sorgen, Gertrude wird im August 70 Jahre alt und Anne Marie kommt ja sicher zur Geburtstagsfeier".
Mein Bruder nahm mich mit zum Düsseldorfer Friedhof, wo unser Vater ruht und machte dort ein Bild von mir. Ich erfuhr mit großer Überraschung, daß die Gattin meines Vaters, Agnes, an einem 19. Januar zur Welt gekommen war. Meine Mutter Marcelline hatte auch am 19.Januar Geburtstag. Sie war 13 Jahre jünger als mein Vater.
Ich habe am Grab geweint. Mein Vater war am 2. Nov 1900 zur Welt gekommen. Er verstarb am 24. Juni 1966 an den Folgen einer Krankheit. Mein jüngstes Kind wurde ausgerechnet am 5. Nov 1966 geboren, er hätte also noch seine beiden älteren französischen Enkelkinder kennenlernen können. Aber meine Mutter hatte jeden Briefwechsel mit ihm abgebrochen, wegen meinem Stiefvater.
Einige tage später erhielt ich vom Fernsehteam die Videokassette der Sendung "Vermißt". Ich finde es nur schade, daß meine Schwester am Tag der Sendung nicht dabei sein konnte.
Vom Bruder bekam ich weitere Bilder unseres Vaters. Dann fuhr ich zurück nach Frankreich, voller guter Erinnerungen und Emotionen. Wir wurden zu Trudis Geburtstagsfeier am 26. Aug. erwartet. Mein Bruder hatte seinen Nachbarn gesagt, daß seine Schwester aus Frankreich nochmal zu Besuch kommen werde. Dazu hatte er eine französische Fahne gekauft und die Trikolore im Garten gehisst ! Als letzte kam meine Schwester, man sah, daß sie zögerte, und ihre Tochter fragte mich: "Sind Sie die Tochter meines Großvaters?"
Aber zuletzt haben wir uns doch umarmt, die brüderliche Liebe war nun einmal da, wir haben die Marseillaise und das Deutschlandlied zusammengesungen, und auch andere Chansons, sogar "Lili Marlene" angestimmt.
Mein Bruder erklärte mir dann, nach dem Tod unseres Vaters habe die Familie Briefe in französischer Sprache und Bilder eines Kindes verbrannt. In Deutschland hatte keiner davon gewußt, es war das Geheimnis meines Vaters gewesen.
Später kam die Verwandtschaft aus Deutschland mehrmals zu Besuch zu uns nach Frankreich, zusammen mit deutschen Freunden.
Wir haben uns öfters geschrieben. Leider verstarb mein Bruder unerwartet, sowie seine Frau und sein Schwager, der Ehemann seiner Schwester. Sie waren alle etwa 20 Jahre älter als ich.
Heute lebt meine 83jährige deutsche Schwester noch, sowie ihre Tochter und Enkelin, die ja meine Großnichte ist. Mein Bruder hatte keine Nachkommen. Als 20jähriger Soldat war er an die Ostfront geschickt worden und durch Maschinenpistolenschüsse am linken Körperteil schwer verletzt worden. Er empfand keinen Haß auf Rußland. Er meinte, es war ja eben Krieg. Zusammen mit seiner Gattin Gertrude empfang er jedes Jahr Tschernobyl-Kinder zu Hause.
Im Dezember 2007 bekam ich das allerschönste Weihnachtsgeschenk: die Geburtsurkunde meines Vaters mit Angaben über seine Eltern, sowie seine Todesurkunde.
Dann kam am 6. Feb. 2008 ein Brief der Deutschen Dienststelle WASt aus Berlin, mit Informationen über den miliärischen Werdegang meines Vaters. Mit 39 Jahren mußte er zur Wehrmacht, und diente ab Nov 1940 als Unteroffizier. Die Sachbearbeiterin der WASt, Frau M.C Zipperling, bestätigte, was ich schon aus den Briefen meines Vaters erfahren hatte.
Dieser Brief der WASt war für mich ein tolles Geschenk. Ich möchte mich hier dafür bei Marie Cecile Zipperling besonders bedanken. Ich kann mir vorstellen, daß die Recherche viel Arbeit und Zeit gekostet hat. Marie Cecile Zipperling ist und bleibt für uns alle die unumgängliche, hilfsbereite und stets freundliche Beraterin und Helferin bei unserer Vatersuche.
Mein Dank geht natürlich auch an Jeanine, Vorsitzende des Vereins ANEG, die stets für uns Zeit hat und uns auch in den Stunden der Not Trost und Verständnis entgegenbringt, sowie an die Freundinnen, ebenfalls Kriegskinder wie ich, Chantal, Jeanne und Huguette, alle drei wissen ja Bescheid.
Hoffnung ist für mich kein leeres Wort. Hoffnung, das war alles, was mir über die schwierigen Zeiten der Kindheit und der Jugend hinweg verhalf.
Von meinem deutschen Vater Wilhelm Schmitz leben heute zehn Nachkommen in Deutschland und Frankreich, allesamt heute Europäische Mitbürger.
Die Rede des französischen Außenministers Bernard Kouchner am 24. April 2008 in Berlin war für uns Kriegskinder entscheidend. Hoffentlich wird endlich unsere deutsch-französische Identität offiziell anerkannt. Ich habe schon bei der zuständigen Behörde den ersten Schritt dazu gemacht. Es ist für mich und meine Kinder von großer Bedeutung. Hoffentlich werden dadurch meine Seniorenjahre friedlicher und harmonischer, wird mein Leiden als Kind, als Heranwachsende, als Erwachsene doch ein Ende nehmen.
Wir Kriegskinder sind unschuldige Opfer dieses Krieges und haben den Vater sehr vermißt. Mein Vater war kein "böser Deutscher", auch kein Nazi. Ich finde es kriminell, die eigenen Kinder zu belügen, egal wer ihre leiblichen Eltern auch sind. Jetzt weiß ich, daß ich meinen Vater lieben darf. Wir alle sind seine Nachkommen und sind stolz auf ihn.