Vorwort
Diese Geschichte habe ich mit eigenen Worten geschrieben. Sie liegt mir am Herzen. Es ist zwar eine schöne Geschichte, jedoch nicht so ganz einfach zu erzählen. Zum ersten Male berichte ich von eigenen, persönlichen Erfahrungen, auf die Gefahr hin, von unzähligen unbekannten, nicht unbedingt wohlwollenden Lesern kritisiert zu werden.
Dies ist mein bescheidener Beitrag zu den Bemühungen des deutsch-französischen Kriegskindervereins ANEG. Derzeit habe ich andere Verpflichtungen. Am kommenden 13. Juni fahre ich nach Dresden zur Hochzeit einer Enkelin meiner Schwester Erika, und werde dort neue Angehörige meiner deutschen Familie kennen lernen. Ich freue mich sehr, die schöne Stadt Dresden wieder zu sehen. Dresden ist eine Reise wert !
Ende Februar 2010 habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft z.H. Herrn FLOTH, Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris beantragt. Ich drücke die Daumen und warte nun täglich auf den Postboten...
Heute sitze ich etwas ratlos und auch verlegen vor einem ungeschriebenen Blatt Papier. Wie soll ich jetzt meine Lebensgeschichte erzählen, ohne wichtige Details zu vergessen, ohne Stilisierung von dem, was nicht stilisiert werden soll, ohne Menschen negativ zu beurteilen, die es nicht verdient hätten ?
vor meiner Geburt. |
Mein Name ist Frédéric MONTHUY, ich bin am 04. Juni 1944 in Paris zur Welt gekommen. Es sind genau 2 Tage vor der Landung der Allierten in der Normandie. Meine Mutter hieß Thérèse FOSSIER, 24 Jahre jung, ledig. Sie gebar ihr Kind kurz vor einem historischen Tag, vor einer blutigen Schlacht.
Ob dieser Tag für sie das Ende einer schönen Liebesgeschichte bedeutet hat, der Tag, an dem sie sich für immer von ihrer großen Liebe verabschieden mußte ? Auf diese Frage habe ich keine Antwort. An den historischen Tag muß ich oft zurückdenken, vielleicht aber eben nur deswegen...
Als Kind war ich nicht unglücklich, im Vergleich zu anderen "Kriegskindern" in Frankreich, die von ihrem Schicksal erzählt haben. Wohl mußte ich ein paar unfreundliche Bemerkungen hinnehmen, verstand aber nicht so recht, was damit gemeint wurde - ich war eben zu jung. Heute verstehe ich besser, weshalb und warum ich scheinbar vor den bösen Bemerkungen der Erwachsenen geschont wurde.
Zunächst muß ich von den Eltern von Jean MONTHUY erzählen. Jean war der Lebensgefährte meiner Mutter und Vater meiner beiden Zwillingsschwestern. Wenn die beiden Mädchen Geburtstag feierten, wurde ich nicht zugelassen, durfte nicht einmal ein Stück Geburtstagskuchen bekommen. So die Stimmung damals... Später trennte sich meine Mutter von ihrem Gefährten. Nun, ich bin ihm trotz allem dafür dankbar, daß er mich doch im Januar 1948 als seinen Sohn legitimierte und mir seinen Namen gab. Sonst hätte ich wahrscheinlich als Kind ohne Vater keine gute Figur gemacht, ohne den Namen eines Vaters in standesamtlichen Urkunden.
Meine Großmutter mütterlicherseits trank ein bißchen zuviel, und wenn sie einen Rausch bekam, war sie nicht gerade zärtlich zu mir. Dann mußte sie mich beschimpfen und mir vorwerfen, ich hätte angeblich Schande über sie und ihre Familie gebracht. Diese peinliche Erinnerung ist leider bei mir festgeblieben, zusammen mit anderen schmerzhaften Erlebnissen, die aber mit vorliegender Geschichte nicht zusammenhängen.
Ich bin 6 oder 7 jahre alt. |
1949 oder 1950. |
ungefähr in Paris. |
Im Jahre 1950 hatte meine Mutter einen weiteren Freund und Lebensgesfährten namens Ariel DORESSAMY, einen indischen Soldat aus Pondichery (damals französisches Kolonialgebiet in Indien). Er wurde der Vater meiner beiden Brüder. Zu mir war er sehr gutmütig, das muß ich unbedingt sagen. Er behandelte mich bis zu seinem Tod wie seinen eigenen Sohn, das weiß ich ganz genau. Für seine zwar strenge, jedoch liebvolle Erziehung bin ich ihm noch heute dankbar. Was ein Junge braucht und lernen muß, nämlich Ehrlichkeit und Achtung - das hat er mir beigebracht.
Nun sehen Sie, lieber Leser, daß ich eigentlich bisher wenig Negatives erleben mußte, wenn ich mein persönliches Schicksal vergleiche mit dem der "Kinder der Schande" in Frankreich, mit dem Schicksal jener Kinder, die man damals im französischen Volksmund "enfants de Boches" nannte. Aus dieser Festellung bekomme ich fast eine Art Schuldgefühl, und möchte sämtliche Schicksalsgenossen, die so viel leiden mußten, um Verständnis bitten.
Und jetzt Näheres zur Recherche nach meinem leiblichen Vater :
den 11. Mai 2006. |
den 11. Mai 2006. |
der Sohn meiner zweiten noch lebenden Schwester. |
von Freiburg den 3. April 2006. |
Das Jahr 2005 wurde für mich besonders schwierig. Ich wurde Rentner, die Berufstätigkeit habe ich nach der Pensionierung stark vermißt. Eines Tages bekam ich Besuch von meiner Tochter und von meiner Schwester. Die beiden fragten mich, ob ich nicht nach meinem biologischen Vater recherchieren wollte. Sie meinten, die ganze Familie hätte von ihm gewußt, aber keiner wüßte genau, wie er meine Mutter kennen gelernt habe. Zu dem Zeitpunkt hatte ich andere Sorgen, und gab nur eine vage Antwort, die Motivation fehlte mir einfach.
Einige Tage später bekam ich ein Buch mit einer kurzer Widmung meiner Schwester : "Das Buch sollst Du lesen. Hoffentlich bringt es Dir ein wenig Trost mit, und auch Hoffnung, daß Du nach Deinen Wurzeln recherchieren magst". Das Buch hieß eben "Enfants maudits - Kinder der Schande".
Dieses Buch war spannend, ich wurde neugierig und las es die ganze Nacht durch, ich war sehr berührt. Alle Geschichten waren so rührend, und auch ganz anders als das, was ich erlebt hatte. Das Buch erwähnte auch eine Organisation in Berlin, die ehemalige Soldaten der deutschen Wehrmacht ausfindig machen konnte.
Am nächsten Morgen versuchte ich, die Organisation (die Deutsche Dienststelle WASt in Berlin) im Internet zu finden, und kam zu einem Formular, das ich ausfüllte, allerdings ohne große Hoffnung. Es war so etwas wie eine Flaschenpost. Ich berichtete von weit zurückliegenden Erinnerungen an Familiengespräche über den unbekannten Vater...
Es wurde eine schlaflose und gedankenvolle Nacht, ich war eigentlich ziemlich ratlos. Eines war aber für mich sicher : mit dem bißchen, was ich der WASt erzählt hatte, würde es der Dienstelle in Berlin nie gelingen, meinen deutschen Vater ausfindig zu machen. Und dann fiel mir etwas ein : daß ich noch in irgendeiner Schublade einen Brief meiner Mutter hatte. Auf dem Briefumschlag hatte sie geschrieben : "pour Frédéric après ma mort - für Frédéric, nach meinem Tode". In dem Brief würde ich vielleicht Genaueres erfahren können.
Im Umschlag fand ich auch einen Brief der Gattin meines deutschen Vaters an meine Mutter aus dem Jahr 1976 vor. Es war die Todesnachricht meines Vaters. Dazu war noch ein Brief meiner deutschen Schwester : ihr war seit 1953 die Geburt eines nachgeborenen Bruders in Frankreich bekannt, und sie würde sich freuen, von dem Kind zu hören.
Dabei stellte ich fest, daß ich bei der WASt falsche Namen erwähnt hatte : richtig waren der Name PIESCHEL (nicht PFEIFFER), und der Vorname Rudolf (nicht Rudi).
Ich meldete mich sofort bei der WAST, entschuldigte mich für die falschen Angaben, und schickte Anfang Nov 2005 Fotokopien von der posthumen Nachricht meiner Mutter. Von meiner Schwester Erika in Deutschland hatte ich jetzt den Vor-und Ehenamen sowie die Adresse. Ich schrieb ihr einen Brief und erklärte, ich hätte nun spontan den Entschluss gefaßt, nach meinen Wurzeln zu recherchieren, und ich wüßte schon, daß mein Vater verstorben sei. Ob ihre Adresse noch stimmte, wußte ich nicht, hoffte aber, Glück zu haben, und daß der Briefträger schon wissen würde, wohin mit dem Brief.
Am 15. Januar 2006 kam ich nach einem Skiurlaub wieder nach Hause, und fand einen Brief vor. Und das war die große Überraschung : ein Mitarbeiter der WAST, Herr Jean-Jacques MARIE, teilte mir mit, er habe meine deutsche Verwandschaft ausfindig machen können, und wies mich auf meine deutsche Schwester Erika hin. Weiter hieß es, Erika wundere sich, daß ich mich erst jetzt nach so viel Zeit gemeldet hätte, und daß sie mir umgehend schreiben wolle. Dazu könne sie die französische Sprache ausreichend beherrschen.
Am nächsten Tag lag ihr Brief vor, mit zwei Fotos, von meinem Vater und von ihr und ihrem Mann. Ich war sehr aufgeregt, mußte auch an meine 1996 verstorbene Mutter zurückdenken. Ich meine, sie hätte sich riesig gefreut, daß ihr Sohn sich endlich entschieden habe, eine Recherche nach seinem leiblichen Vater und dessen Familie in Deutschland zu starten, und daß die Suche bei der WASt doch erfolgreich geworden war. Nun war die Sache klar geworden. Leider war meine Mutter nicht mehr da. Für mich wurde der weitere Ablauf der Geschichte zu einem schönen Erlebnis.
Aus Erikas erstem Brief erfuhr ich, daß ich andere Geschwister hatte : eine Schwester lebte in Dresden, eine andere in der Nähe von Freiburg (Schwarzwald). Eine dritte Schwester war schon 1983 verstorben, sie hatte in Frankfurt a. Main gewohnt. Erika schrieb weiter, wir seien alle nicht mehr die jüngsten, sollten daher in absehbarer Zeit ein Treffen organisieren. Das Zusammenkommen wurde auf den 13. März 2006 festgelegt - für mich heute ein wichtiger Tag.
Meine Gattin Micheline und ich nahmen uns vor, nach Markersdorf (Sachsen) mit dem Auto zu fahren. Markersdorf liegt in der Nähe von Görlitz, an der deutsch-polnischen Grenze. Für uns immerhin eine 1350 Km-Strecke ! Unterwegs würden wir wohl eine Pause in Erfurt einlegen müssen und dort übernachten. Alles wurde wohl geplant - nur nicht der Schneesturm, der über Deutschland wehte… Außerdem konnte keiner von uns beiden auch nur ein einziges Wort Deutsch !
Am Vormittag des 13. März standen wir erwartungsvoll und auch etwas beklemmt vor Erikas Tür. Nun stand sie auch da vor ihrem Haus und lächelte uns zu, und sofort verstanden wir, daß sie sich auch freute. Und so etwas vergesse ich mein Leben nie ! Das totale Glück gibt es ja gar nicht, heißt es. Heute bin ich mir dessen nicht mehr so sicher ! Dann erschien auch Erikas Mann, Wolfgang, und freute sich auch riesig auf unseren Besuch in Sachsen an diesem verschneiten Tag.
Wir wurden herzlich empfangen, wir spürten sofort die Offenheit und die Freundlichkeit unserer beiden Gastgeber. Am Abend fand noch ein großes Familientreffen statt : Erika und Wolfgang stellten uns ihren Sohn samt Familienangehörige vor.
Drei Tage haben wir bei Erika verbracht. Sie zeigte uns Bilder aus dem Familienalbum, ich konnte nun meinen Vater und seine Kinder entdecken. Meine deutschen Geschwister waren alle älter als ich. Na ja, mein Vater war ja 14 Jahre älter als meine Mutter, als er sie kennen gelernt hatte. Er war schon verheiratet. Aber seiner Gattin hatte von seiner 2jährigen Liaison in Frankreich gewußt. Erika schenkte mir Manschettenknöpfe des Vaters. Ein rührendes Geschenk, es waren ja Gegenstände, die ihm persönlich gehört hatten.
Wir hatten mit Micheline geplant, eine ganze Woche in Sachsen zu bleiben. Nach dem Besuch bei Erika wollten wir ihre Schwester Gisela und einen anderen Sohn von ihr in Dresden besuchen, sowie weitere Familienangehörige, die ich überhaupt noch nicht kannte.
Am vierten Reisetag trafen wir uns in Dresden vor dem Eingang zur Frauenkirche mit Gisela zusammen. Die Frauenkirche ist ein wunderschönes sakrales Bauwerk. Sie wurde im letzten Weltkrieg total zerstört und nach der Wende kunstgemäß wieder aufgebaut.
Auch an diesem Tag erlebten wir ein herzliches Treffen mit Gisela, ihrem Mann Jochen und ihrem Neffen Hanno, dem Sohn meiner Schwester Christina, die ja in Freiburg wohnt. Hanno lebt in Paris und spricht fliessend Französisch, was uns eine große Hilfe für den weiteren Besuch in Dresden war, denn Erika wollte sich von uns verabschieden und wieder nach Hause gehen.
Wir waren noch drei Tage in Dresden. Bei jedem Besuch wurde der Kreis der Verwandten größer : immer mehr Neffen, Nichten, Großneffen und Großnichten waren dazu gekommen !
Bei einem gemeinsamen Abendessen bei Gisela bekam ich von ihr einen Brief. Ich erkannte sofort die Schrift meiner Mutter. Der Brief wurde am 08. Januar 1944 an den "Lieben Rudi" geschrieben. Mein Herz klopft etwas schneller. Wieso war dieser Brief 63 Jahre später bei meiner Schwester gelandet? Ich las ihn ganz schnell durch, mir kamen die Tränen, ich reichte den Brief mit einem Dankeswort an Gisela zurück. Sie meinte, den Brief könnte ich jetzt behalten. Ein wunderbares, wertvolles Geschenk von ihr !
Diesen Brief habe ich x-mal durchgelesen. Es war ein Abschiedsbrief meiner Mutter an Rudi. Sie wollte Schluß machen, erklärte ihm aber auch, was sie mit ihrem Sohn vorhatte, wie sie mich erziehen wollte. Mit dem zeitlichen Abstand kann ich heute bestimmt nicht falsch verstehen, was meine Mutter mit mir und meiner Zukunft im Sinne hatte. Erst jetzt kann ich ihr endlich dankbar sein für die Geborgenheit, die Zuneigung, die sie mir entgegenbrachte, damit ich nicht an dieser meiner unzeitgemäßen Abstammung leiden mußte, auch für alle Opfer, die sie auf sich nehmen mußte. Arme Mutter ! Oft hast du mir vorgeworfen, ich sei ein undankbares Kind, wenn ich doch getadelt werden mußte. Und Du hattest recht ! Dein Sohn konnte ja nicht alles wissen, was Du für ihn tatest. Ich bitte Dich nachträglich um Verzeihung, weil ich doch keine Ahnung hatte von der Liebe, die Du mir entgegenbrachtest !
Ja, und deshalb wurde meine Kindheit doch irgendwie geschonter als die von anderen "Kriegskindern", meinen Schicksalsgenossen.
Giselas weiteres Geschenk war das Notizbuch des Vaters aus dem Jahr 1944, als er an der belgisch-französischen Grenze in Kriegsgefangenschaft geriet und in das KG-Lager Voves bei Chartres gebracht wurde.
So habe ich jetzt schriftliche Zeugnisse meiner beiden biologischen Eltern, womit ich ein Stück ihrer Lebensgeschichte rekonstruieren kann.
Zuletzt haben wir das Grab meines Vater auf einem sehr schön angelegten Friedhof besucht. Der Friedhof liegt an einem Hügel mit Blick auf Dresden. Dort standen wir beide nebeneinander, Gisela und ich, und waren beide dankbar für diesen besinnlichen Augenblick.
Und zum Schluss haben wir noch die Schwester meines verstorbenen Vaters dort besucht, wo sämtliche Familienangehörige PIESCHEL zu Hause sind. Die Adresse hatte ich ja aus einem Brief von Erika erfahren.
Dann sind wir nach Frankreich zurückgefahren, mit schönen Erinnerungen und Familienbildern, die mir freundlicherweise geschenkt wurden, damit auch ich ein Familienalbum machen konnte, wie ein jedes Kind auf der Welt. Dabei stellte ich fest, daß sich meine Verwandschaft verdoppelt hatte ! Auf franz. Seite bin ich der Ältere, auf deutscher Seite jedochder Jüngste.
Im Mai 2007 kamen meine Schwestern auf Gegenbesuch zu uns in die Normandie. Für sie schon eine Premiere : zwei von ihnen waren überhaupt nie nach Frankreich gekommen. Wir durften 3 glückliche Tage zusammen verbringen, niemand hatte etwas dagegen. Weitere Besuche fanden auf beiden Seiten statt, Briefe und vor allem E-Mails wurden ausgetauscht, die ganze Familie machte ja mit.
Zu den Festtagen 2007 wurden Grüße und Wünsche ausgetauscht. Aber dann, an einem März-Abend, kam eine traurige Nachricht. Mein Neffe rief aus Paris an und teilte mir, daß meine Schwester Erika am Sterben lag. Ich wollte noch ein bisschen Hoffnung hegen : wir hatten uns erst kennen gelernt, so schnell dürfe sie sich ja nicht von uns verabschieden. Aber leider mußte sie am 13. März 2007 auf immer von uns gehen. Genau ein Jahr nach unserem ersten Treffen... Deshalb ist der 13. März für mich ein wichtiger, schicksalshafter Tag.
Soweit mit meinen Erlebnissen. Es ist nicht so einfach, von sich selber und von den eigenen Gefühlen zu schreiben. Aber ich hoffe damit, daß unsere Schicksalsgenossen Mut und Hoffnung bei der Suche nach dem so sehr vermißten deutschen Vater schöpfen werden. Es ist lediglich der Sinn meiner Erzählung, wie mit unserer Vereinsvorsteherin einmal abgesprochen.
Frédéric.
Mai 2010.